Ich stehe im warmen Hotelzimmer und starre auf die ausgebreiteten Utensilien. Mein Kopf ist eine dunkle Leere, ich sehe nicht mal alles richtig. Dennoch nicke ich, um mir selbst zu verstehen zu geben, dass ich alles beisammen habe. Habe ich alles? Ich wische diesen einen Gedanken schnell beiseite – es gibt nun sowieso kein Zurück mehr. Mit einem tiefen Seufzer hole ich meinen Rucksack hervor und packe eins nach dem anderen systematisch ein. Mit jedem eingepackten „Ding“ wächst meine Anspannung. Ich bekomme jetzt schon Rückenschmerzen… Na super, fängt ja gut an!
Ich stoße ein Atemwölkchen aus, welches sich sanft in der kalten Luft auflöst. Dann schaue ich langsam hinauf: Vor mir steht mein Berg. Ich habe ihn ausgesucht, um ihn zu besteigen, um den Gipfel zu erobern und diesen einzigartigen Ausblick zu entdecken. Ich weiß noch nicht, was auf mich zukommen wird, aber ich hoffe, dass ich mich zu Genüge vorbereitet habe. Dass ich alles dabei habe, was ich brauchen werde. Fest entschlossen laufe ich los. Mit jedem Schritt lasse ich meine Anspannung los und bemerke, wie ich immer leichter werde. Die Luft ist kühl und angenehm und absolut rein. Mein Herz klopft fröhlich vor sich hin, immer wenn ich an mein Ziel denke.
Meine erste Rast verbringe ich im Schutz großer Nadelbäume. Sie versprühen einen angenehmen Duft und lassen mich von ihrer stärkenden Energie tanken. Hier und da höre ich einen Vogel zwitschern, dessen Stimme im Wald verschluckt wird. Es ist schon ziemlich still hier oben… Aber angenehm, friedlich.
Als ich aufbreche, merke ich, wie sich nun schon die Träger meines Rucksacks in meine Schultern graben. Ich versuche die Stimmung vom Anfang wieder herzustellen, die Last mit jedem Schritt abzuschütteln – es gelingt mir aber nicht richtig. Schon bald merke ich, wie die Luft dünner wird und ich zu kämpfen beginnen muss. Einen Kampf gegen die Last, gegen meinen Schweinehund und meine innere Stimme durchzuhalten. Ich weiß nicht genau, wen ich dabei vertrete. Es wird zu einem Chaos in meinem Kopf und meine Vernunft gibt mir den Befehl stehen zu bleiben und tief durchzuatmen. Ich sehe in den bewölkten Himmel. Eine kleine Schneeflocke wirbelt durch die Luft und landet auf meiner glühenden Stirn. Kalt breitet sie sich darauf aus und hinterlässt ein angenehmes Gefühl. Ich schließe meine Augen. Nur einen kurzen Moment später spüre ich diese zarten Berührungen überall in meinem Gesicht. Die Welt um mich herum wird dumpf und leise. Auch in mir ist endlich alles verstummt und ich fühle mich endlich wieder in meiner Mitte. Langsam gehe ich weiter und sehe, wie sich die Flöckchen zahlreich und ganz dick auf dem schmalen Pfad zu einer geschlossenen Schneedecke formen.
Es knirscht unter meinen Schuhen und ein pfeifender Wind wirbelt die dicken Schneeflocken durch die Luft. Die Berührungen der zarten Geschöpfe sind nun peitschend und eisig. Ich grabe mein Kinn in den Schal ein und kneife meine Augen zu. Der Rucksack hängt wie ein Sack Steine an meinen Schultern und ich komme nur noch langsam und zögernd voran. Plötzlich rutsche ich mit meinem linken Fuß weg und ich falle unsanft auf meinem Bauch. Das Gepäck gräbt mich noch tiefer in den Schnee. Da liege ich. Eingegraben und mit einem tauben Gesicht. Ich weiß nicht wie lange ich dem Wind und dem leisen dumpfen Klirren der aufkommenden Schneeflocken um mich herum zuhöre, jedenfalls fühlt es sich ewig an. Meine Glieder sind schon ganz taub und ich überlege ernsthaft liegen zu bleiben, als ich daran denken muss, wie es wäre, mit diesem schweren Gewicht auf dem Rücken aufzustehen. Doch bei diesem Gedanken kommt mir in den Sinn, dass ich Spikes dabei habe und das entfachte in mir einen neuen Hoffnungsschimmer. Mit einem Schwung drehe ich mich auf den Rücken und setze mich auf. Ich winde mich aus den Schulterschlaufen und stehe auf, um mich zu schütteln und wieder Leben und Wärme in meinen Körper fließen zu lassen.
Mit neuer Energie und Tatendrang stapfe ich weiter den Berg hinauf. Der Rucksack fühlt sich schon viel leichter an, jetzt, wo ich die schweren Spikes an meinen Schuhen festgebunden habe. Zwar ist das Gehen nicht mehr ganz so beschwingt wie am Anfang, aber es fühlt sich allemal besser an als vorher. Der Wind hat schon etwas nachgelassen, es fallen nur noch vereinzelt ein paar Flöckchen.
Die Bäume werden immer gedrungener und der Wald lichtet sich. Als ich um eine Kurve komme und einen Blick auf meinen weiteren Weg erhaschen kann, wird mir übel. Ich bleibe stehen und atme schwer. Es wird so steil und es ist noch so unfassbar weit! Und was sehe ich da, in der Ferne, ziemlich weit oben, fast am Ziel? Nur Gestein und eine bedrohliche Felswand. Ich kann keinen sicheren Weg mehr erkennen. Was habe ich mir da angetan?? Wie auf Kommando graben sich die Gurte in meine Schultern und ziehen mich zurück ins Tal. Ich muss mich vornüber beugen, um dem nicht nachzugeben. Meine Knie fangen an zu zittern. Ohne weiter darüber nachzudenken, setze ich mich an den Wegesrand und starre vor mir in den Schnee. Weiße Atemwölkchen breiten sich in meinem Sichtfeld aus und verschwinden dann in der kalten Luft. Dumpf und leise bahnen sich meine Gedanken an. Sie werden immer lauter und dröhnender, bis ich meine Handschuhe an meine Ohren presse, um nicht darauf hören zu müssen. Aber natürlich führt kein Weg daran vorbei, ich muss zuhören. Zweifel schüren mein Innerstes: Habe ich mir zu viel vorgenommen? Dabei melden sich immer wieder Menschen aus meinem Umfeld zu Wort und fachen das Feuer meiner Unsicherheit mehr und mehr an. Eine heiße Träne läuft mir an meiner kalten Wange hinunter und hinterlässt ein warmes Gefühl. Ich halte daran fest und atme tief ein… und tief aus. Ich schließe meine Augen, dabei fallen noch ein paar Tränen hinab. Für was tue ich das? Mir wurde mehrfach gesagt, dass es schwierig werden würde und es keine Schande ist, wenn ich abbreche. Schließlich ist doch das Versuchen alles was zählt… oder? Für wen tue ich das? Wem will ich hier etwas beweisen? Wollte ich das denn nicht für mich schaffen? Sollte es mir denn nicht egal sein, was andere von mir denken? Natürlich würden sie wohlwollend unten auf mich warten und mich in ihre Arme schließen, aber dann bin ich es, die damit Leben muss. Will ich damit leben, dass ich aufgegeben habe?
Der Wind puscht mich den Berg hinauf, ich laufe wie von der Tarantel gestochen. Mir ist heiß und am liebsten würde ich schreien. Ich weiß nicht woher plötzlich diese Wut kommt. Aber diese Wut auf mich, auf die Anderen hat mir Kraft gegeben. Mein Herz rast, ohne zu erschöpfen. Ich will dieses Rasen abstellen, es macht mich fast wahnsinnig. Deswegen renne ich nun fast den Pfad hinauf. Fest entschlossen, niemandem Recht zu geben. Fest entschlossen mir zu beweisen, dass ich stark bin. Fest entschlossen meinen Selbstzweifeln davon zu laufen.
Was ist das? Ich schaue mit geneigtem Kopf skeptisch die Felswand hinauf. Es sind ein paar Ringe in geschlängelter Linie eingeschlagen worden und zeigen den besten Aufstieg an. Ich wusste schon, dass so etwas auf mich zukommen wird, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es so weit sein würde. Ist mein Seil lang genug? Habe ich genug Karabiner dabei? Ich schnalle meinen Rucksack ab, wohl bedacht nicht wieder mein Gedankenkarussell anzuschmeißen und grabe darin herum. Meine komplette Kletterausrüstung lege ich auf einen, vom Schnee beseitigten Felsen und starre wieder, wie im Hotelzimmer, darauf. Ist das wirklich alles? Ohne weiter nachzudenken, schnalle ich meinen Sicherungsgurt an meinen Körper, schwinge meinen Rucksack auf meinem Rücken und zurre in so fest es geht. Beim ersten Einclippen und hochziehen, bleibt mir fast die Luft weg. Ich beiße meine Zähne zusammen und schlage meine Füße in den gefrorenen Schnee und das Gestein. Rhythmisch arbeite ich mich voran, wohlbedacht nicht immer wieder nach oben zu sehen. Oder nach unten. Immer wieder muss ich straucheln, da mich das Gewicht meines Rucksacks nach unten zieht. Beim nächsten Clippen bleibt mir fast das Herz stehen, als ich mit meiner Hand abrutsche und fast nach unten falle. Ich konnte mich zum Glück noch fangen. Schwer atmend und zitternd presse ich mich an die kalte Felswand. Ich komme mir so verloren vor. Was mache ich hier nur… Die Schultergurte ziehen an mir wie Hände, sie ziehen mich in die Tiefe. Ich muss meine ganze Kraft dafür verwenden mich festzuhalten. Die Kälte kriecht unter meine Jacke und bringt mich zum frösteln.. Ächzend ziehe ich mich weiter hoch, um wieder Wärme zu sammeln. Ich muss erschreckend feststellen, dass ich langsam am Limit meiner Kräfte ankomme.
Hier! Ein kleiner Felsvorsprung! Ich hieve mich wie eine Robbe, die aus dem Wasser kommt, auf den Vorsprung hinauf und presse mich an die schützende Wand. Mein ganzer Körper bebt vor Kälte und Erschöpfung. Meine Zähne schlagen unkontrolliert aufeinander, wenn ich sie nicht fest zusammenpresse. Ich sitze hier, wie ein Häufchen Elend und weiß nicht, was ich nun machen soll. Ich habe mich maßlos überschätzt. Ein Schluchzen bahnt sich von tief in mir an die Oberfläche. Kraftlos gebe ich das Unterdrücken auf und lasse es hinaus. Es war wie das Brechen eines Damms – nun sprudelt es unaufhörlich aus mir heraus; Tränen über Tränen und ein Wimmern. Ich wäre mir selbst ziemlich peinlich, war aber zu schwach, um an meine Würde zu denken. Und schließlich war hier auch niemand, der mich unverständlich hätte ansehen können. Hier bin nur ich.
Ich weiß nicht wie lange ich hier schon sitze und ob ich vor lauter Erschöpfung sogar ein wenig eingenickt bin, denn als ich meine Augen öffne und gegen Sonnenstrahlen blinzeln muss, erschrecke ich. Goldene Strahlen bahnen sich ihren Weg aus der Wolkendecke und lassen kleine Flecken in der Ferne glitzernd aufhellen. Es ist wunderschön anzusehen. Das erste Mal, seit ich hier sitze, kann ich meinen bisher gegangenen Weg erkennen. Ich schlucke, als ich sehe, wie unfassbar weit ich schon gekommen bin. Ich kann nicht begreifen, wie ich das so schnell geschafft habe. Eine Kraft fließt in meinen Körper hinein, welche mich tatsächlich wieder zu hoffen wagen lässt. Umso mehr ich die Spotlights der Sonne betrachte, desto mehr habe ich das Bedürfnis dies von ganz oben bewundern zu können. Dieser neue Willen, die Kraft und die Hoffnung, das Ganze doch noch schaffen zu können, lässt mich aufstehen und die klammen Glieder ausschütteln. Mit neuem Tatendrang ziehe ich mich am ersten Steig hoch und muss mit pochendem Herzen feststellen, dass der Rucksack so schwer wie Blei ist. Mit zitternden Händen halte ich mich wieder am Felsen fest und meine ganze Selbstsicherheit und Zuversicht droht abzubröckeln. Die fordernden Finger graben sich in meine Schultern hinein und ziehen mich erbarmungslos in die Tiefe. Ich beiße meine Zähne zusammen. Meine Muskeln fangen wieder zu zittern an. Es gibt nun nur noch ein Ultimatum. Entweder oder.
Mit einem dumpfen Schlag prallt das Gepäck am Fuße der Felswand auf dem schneebedeckten Boden auf. Irgendetwas scheppert und klirrt, als wäre etwas kaputt gegangen. Stirnrunzelnd wage ich einen Blick nach unten, um sehen zu können was das war. Keine gute Idee. Die Tiefe schnellte mir entgegen und drohte mit Schwindel. Schnell sah ich wieder auf meine Wand vor mir und klammerte meinen leichter gewordenen Körper daran fest. Meine Schultern fangen an zu kribbeln, als das Blut in die Bereiche zurückfließen darf. Dieses Gefühl ist besser, als ich es erwartet habe. Ich schließe meine Augen, lege meinen Kopf in den Nacken und rolle ihn hin und her um die Anspannung endgültig loslassen zu können. Mit warmen, zarten Fingerspitzen berühren mich die Sonnenstrahlen im Gesicht und geben mir den Startschuss zum weiterklettern. Wie eine Lampe, erleuchtet sie mir den Weg und ich komme schneller voran, als ich es mir zu wünschen gewagt habe. Wenn ich mein Seil einclippe, kann ich immer wieder erkennen, dass sich die Wolken mehr und mehr für die Sonne und den blauen Himmel beiseite schieben.
Ich greife ins Leere, als ich mich weiter nach oben tasten will. Dann grabe ich durch den Schnee nach ein paar Grasbüscheln, an denen ich wenigstens ein wenig Halt bekommen würde. Nach der letzten Absicherung ziehe ich mich mit geballter Kraft nach oben und robbe mich so weit nach vorne, mit dem Gesicht im Schnee, bis ich keinen Abgrund mehr unter den Füßen spüre. Die Sonne brennt auf meinem Rücken und ich drehe mich um, öffne langsam die Augen und kann schräg über mir den Ansatz eines Gipfelkreuzes erkennen. Dieses Mal bahnt sich ein Glucksen hervor. Ich lasse es zu, schließe meine Augen und lache unkontrolliert vor mich hin. Ich weiß nicht welcher Gedanke es war, aber irgendetwas bewegte mich dazu, einen Schneeengel zu erschaffen. Immer noch schmunzelnd bewege ich meine Arme und Füße auf und ab und muss noch mehr grinsen, als ich feststelle, dass mich selbst diese Aktion so erschöpft. Mit allerletzter Kraft, stemme ich mich auf die Beine und stolpere achtsam aus meinem Kunstwerk hinaus, hinein in das Nächste. Mir bleibt der Atem weg, als ich mich unbeholfen im Kreis drehe. Es ist unvorstellbar, was ich hier vor mir sehen darf. Es sprengt jede Vorstellungskraft. Die Sonne, der Himmel, das Glitzern des Schnees und die unfassbar weite Ferne und Freiheit. Die Bilder verschwimmen vor meinen Augen und mir laufen Tränen der Freude an meinen Wangen hinunter. Ich möchte sie nicht wegwischen. Ich habe es geschafft.
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